Auf Ex.

Seit gut 12 Jahren nehme ich regelmässig Psychopharmaka ein. Jahrelang steckte ich viel Energie ins Bestreben, das möglichst unbeobachtet zu tun. Ich bin viel unterwegs, hatte mit einer Ausnahme immer einen beachtlich langen Arbeitsweg, und da ich (noch) nicht Auto fahren kann, bin ich demzufolge sehr häufig im ÖV, an irgendeinem Bahnhof, in irgendeinem Zug, in irgendeinem Bus. Ein Leben im Einklang mit den SBB, quasi, seit ich 18 bin, besitze ich das GA, die gesamtschweizerische ÖV-Legitimation, und obwohl dieses „Geberalabonnement“ schweineteuer ist und zunehmend schweineteurer wird, so pflege ich doch zu scherzen, dass die SBB an mir bestimmt nie wirklich verdient haben. Ich bin ÖV-Profi, ÖV-Poweruser, ich verbringe einen grossen Teil meines Lebens unterwegs.

Früher also habe ich peinlich genau darauf geachtet, dass, falls ich aus Mobilitätsgründen die Tabletteneinnahme nicht zu Hause im sicheren Badezimmer hinter mich bringen konnte, mir an einem Bahnhof etwas zu trinken besorgt habe (liebe Leser, was ihr auch tut: Nehmt nie, ich wiederhole, NIE irgendwelche Tabletten ohne etwas zu trinken ein. Bei einem haarsträubenden Versuch in die Richtung bin ich nämlich ernsthaft fast erstickt!) und mir dann im Zug ein im besten Fall verpinkeltes Klo gesucht habe, um dort in aller Heimlichkeit die jeweiligen Neuroleptika zu Gemüte zu führen. Lieber schob ich die Einnahme auf, als in aller Öffentlichkeit Tabletten zu schlucken. Habe ich aufgrund beruflicher oder sozialer Verpflichtungen auswärts übernachtet (viele Medikamente sollte man ja vor dem Schlafengehen einnehmen), so habe ich mir bereits Tage zuvor eine Ausrede überlegt, warum ich mich zu einer bestimmten Uhrzeit zusammen mit meiner Handtasche ins Klo verziehen muss. Ich habe in Lagern, die zu meinem Beruf leider dazugehören, immer genau überlegt, wo ich meine Medikamente aufbewahre, damit garantiert keine Mitarbeiterin, mit der ich vielleicht das Zimmer teilen musste, einen Blick darauf erhaschen konnte.

Ich war peinlich genau darauf bedacht, in Apotheken, in denen ich die Medikamente abholen muss, genau darauf zu achten, wer sonst noch da ist, ich habe manchmal sogar nur bei bestimmten Apotheksmitarbeitenden die Medikamente bezogen, bei denen nämlich, die nicht quer durch den Raum brüllten „AH, ZYPREXA, DAS IST EIN NEUROLEPTIKUM, NICHT WAHR?! OH, UND SCHLAFMITTEL HABEN SIE AUCH NOCH?!“

Ich habe mir vorher schon überlegt, in welche (genug grosse) Tasche ich die voluminösen Riesenschachteln mit den Psychopharmaka verstauen werde, damit mich nicht jemand auf offener Strasse mit einer Apotheken-Tasche erwischt.

Wenn ich Besuch hatte zu Hause, habe ich alles Verdächtige versteckt, manchmal nicht einfach nur in einen Schrank im Bad, denn wer kennt nicht neugierige Besucher, die sich das Bad genauer ansehen.

Ich habe das einerseits gemacht, weil ich mich dafür geschämt habe, dass ich Medikamente einnehmen muss. Ich habe das aber auch und vor allem gemacht, weil ich verhindern wollte, dass jemand entdeckt, dass ich das machen muss, ohne dass ich das wollte. Ich erzähle den wenigsten Menschen davon, eigentlich nur jenen, die mich schon jahrelang kennen und mit denen ich nicht beruflich zu tun habe.

Das alles habe ich in der Vergangenheitsform geschrieben. Nein, ich erzähle auch heute noch den wenigsten Menschen von meiner Krankheit und meinen Medikamenten. Aber seit etwa einem Jahr spiele ich manchmal bewusst „Einnahme-Roulette“. Keine Panik, ich nehme meine Medikamente, zuverlässig wie eine Schweizer Uhr. Oder zumindest fast. Aber ich nehme sie nun manchmal ganz bewusst in der Öffentlichkeit ein. Auf einem Bahnsteig. Im vollen Zug. In einer Bar, runtergespült mit einem Schluck Bier. In der Küche meiner Mitarbeiterin. Nicht demonstrativ, ich sage dabei nicht „so, werte Fahrgäste, aufgepasst, ich schlucke jetzt meine Psychopharmaka!“, ich krame einfach zwei Tabletten aus der Handtasche und spüle sie herunter, als wären es Schmerzmittel oder Herztabletten oder Blutverdünner.

In dem Sinne: Aufgepasst, ich schlucke gleich 2 Tabletten. Auf Ex.

Ein Gedanke zu “Auf Ex.

  1. Oh, das kenne ich. Mir war das anfangs auch so peinlich, bzw. ist es mir heute in der Apotheke immer noch. Ich bestell die Medikamente gerne telefonisch vor und die Packen mir dann schon alles zusammen, da wir ne Kundenkarte dort haben.
    Mit dem Tabletten schlucken ist es auch so ne Sache. In der Öffentlichkeit mache ich es auch ungern, aber seit ich mir so Medikamentenaufbewahrungsboxen geholt habe geht es besser, denn so sehen andere nicht was du da genau nimmst. 😉

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