Take a chance on me.

Vor kurzem kam bei der Arbeit von einer Gruppenleiterin eine unterwartete Frage: „My, kann ich dich etwas fragen? Welchen Eindruck hattest du von der Schnupperpraktikantin?“

Welch eine Frage. Ich hatte das junge Mädchen nur rasch beim Hereinkommen gesehen, und dann nach dem Essen, als ich die Kinder beim Zähne putzen unterstützen sollte, ein paar Worte mit ihr gewechselt. Überrumpelt gab ich das erste von mir, was mir durch den Kopf ging: „Na ja, schwer zu sagen… sie ist sehr freundlich und sympathisch, vielleicht noch etwas unbeholfen?… Aber sie ist ja auch noch sehr jung.“ Die Gruppenleiterin grinste, „ok, das reicht mir.“

Kaum hatte ich diese Situation verlassen, grübelte ich über die möglichen Konsequenzen meiner unbedachten Aussagen. Was hatte die Gruppenleiterin daraus abgeleitet? Warum hatte ich mich so negativ ausgedrückt? Bekam die junge Frau nun vielleicht eine Absage, weil ich sie als „unbeholfen“ bezeichnet hatte?! Ich hatte das ja gar nicht so negativ gemeint, wie es vielleicht geklungen hatte. Sie schien noch nicht oft in einem Kinderheim gewesen zu sein, das wollte ich damit sagen, aber kann man das einer vielleicht 20jährigen Anwärterin auf einen Praktikumsplatz wirklich vorwerfen?

Seither sind Wochen vergangen, und seither gärt es in meinem Hinterkopf. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Frau eine Absage erhalten hat. Realistischerweise wohl nicht einfach nur wegen meiner Aussage. Aber es lässt mich trotzdem nicht los.

In der Insitution, in der ich tätig bin, werden Praktikant*innen sorgfältig ausgewählt (ich erwähne das, weil das nicht überall so ist, dazu später). Ich bin mir sicher, dass die erwähnte Gruppenleiterin hohe Ansprüche hat. Sie nimmt nicht die erst beste, sie will jemanden, ders drauf hat. Der es schon von Beginn weg drauf hat, am besten. Vermutlich ist das irgendwie normal auf dem Arbeitsmarkt. Man hat nicht den Nerv, jemanden übermässig lange einzuarbeiten. Man möchte, dass jemand Selbstbewusstsein verströmt und eine natürliche Autorität mitbringt, damit sich die Person den Kindern gegenüber auch durchsetzen kann. Man möchte jemanden, der am besten im Turnverein, bei der Pfadi und beim blauen Kreuz ist, super fröhlich und schwungvoll daher kommt, jedoch auch knallhart Grenzen setzen kann.

Ich verrate euch jetzt mal ein Geheimnis: Ich war nicht so, als Praktikantin, damals, mit 20. (WER HÄTTE DAS GEDACHT!!!) Nein, ich war definitiv nicht so. Warum ich diese Praktikumsstelle bekommen habe, kann ich mir nachträglich nur mit 3 möglichen Szenarien vorstellen, hier sortiert nach der von mir vermuteten Plausibilität:

1) Das Kinderheim, in dem ich mein Vorpraktikum absolvierte, stellte jeden, ich meine wirklich JEDEN als Vorpraktikant*in ein.

2) Ich war die einzige Bewerberin auf diese Stelle, und im Zuge der wachsenden Verzweiflung, diese Stelle besetzen zu müssen, stellte man halt mich ein.

3) Die Verantwortlichen, die mir diese Stelle vergaben, liessen sich durch mein gutes Matur-Zeugnis blenden (und das abgebrochene Studium blendeten sie aus).

Ich will nicht unnötig übertreiben, aber: Ich war zugedröhnt mit Psychopharmaka, als ich mich dort vorstellen ging. Ich hatte gerade ein abgebrochenes Studium, einen Psychiatrie-Aufenthalt und einen Aufenthalt in einer betreuten Wohngruppe für psychisch Kranke hinter mir. Ich kann mich nur bruchstückhaft an mein Vorstellungsgesrpäch erinnern. Ich hatte keine Erfahrung mit Kindern, gar keine. Ich hatte nie Kinder gehütet, ich hatte keine jüngeren Geschwister, ich war nicht in der Pfadi und trainierte auch keine Junioren (ich hatte ja nicht mal „Hobbies“). Ich hatte keine guten Argumente, warum ich unbedingt mit Kindern arbeiten wollte, die ja zu allem Überfluss auch noch behindert waren. Auch zum Thema „Behinderung“ hatte ich keine Erfahrung, gar keine. Ich war apathisch, als ich an diesem Tag zum ersten Mal mit einem behinderten Mädchen auf den Spielplatz ging. Ich schluckte Unmengen an sedierenden Medikamenten in dieser Zeit. Ich vegetierte so vor mich hin.

Aber: Ich wurde angestellt, warum auch immer. Mein Vertrag war auf ein halbes Jahr befristet. Spätestens, als ich dort zu arbeiten begann, dürfte dem Team aufgegangen sein, dass sie sich da keine Granate als Praktikantin geangelt hatten. Ich konnte weder Tee kochen, putzen, noch Konflikte mit Kindern austragen. Ich brauchte ewig, um einen Tisch korrekt zu decken, so dass alle Kinder ihre Spezial-Essutensilien und den richtigen Teller vor sich stehen hatten. Ich vergass am laufenden Band, was mir jemand erklärte. Ich war abwesend, ich war extrem müde (Schlafmedikamente my ass), ich war extrem unsicher. Nach drei Monaten ging es darum, ob mein Vertrag auf ein Jahr verlängert wird. Ich ging zur Chefin und erzählte ihr, was mit mir los war. Ich nannte ihr meine Diagnose, ich erzählte von den Medikamenten und auch vom Psychiatrieaufenthalt. Ich sagte ihr, ich würde sehr gerne bleiben. Und jetzt kommt der Knüller (wurde auch Zeit, schon klar!): Sie eröffnete mir etwas später, dass sie sich mit dem Team besprochen hatte und dass sie fänden, sie möchten mir eine Chance geben. „Ich merke, dass du willst. Du willst etwas lernen, und du bist intelligent. Das wird schon.“ Mein Vertrag wurde um ein halbes Jahr verlängert. Und schliesslich wurde sogar ein Ausbildungsplatz für mich geschaffen.

Ich hatte einfach nur Glück, ich weiss das. Es hätte alles ganz anders ausgehen können. Spätestens im dritten Ausbildungsjahr, als ich meine Medikamente nicht mehr nahm, psychotisch wurde und nicht mehr arbeiten konnte. Aber es ging gut aus. Und warum?

Weil man mir eine Chance gab.

Man hat mich nicht einfach aussortiert, als klar wurde, dass ich ein Reinfall war. Man hat mir eine Chance gegeben, obwohl ich es definitiv NICHT drauf hatte. Man hat mir eine Chance gegeben, obwohl ich furchtbar langsam war, beim putzen, beim Tisch decken, beim Interagieren mit den Kindern, beim Lernen von sozialen Skills, beim Umgang mit den Behinderungen, beim Aufbauen meiner Art von Autorität. Ich war langsam, und ich beging Fehler. Ich verschlief häufig, ich schrottete mehrere Haushaltgeräte, ich reagierte nicht immer richtig auf die Kinder. Trotzdem hat man mir eine Chance gegeben. Und ich vergesse nie, wie stolz meine Chefin auf mich war, als ich 5 Jahre nach Antritt meines Praktiums mein Diplom erhielt (auch meinen Mitstudierenden wurde das bewusst, denn sie pfiff auf zwei Fingern und jubelte lautstark quer durch den Saal, als ich die Bühne betrat, um mein Diplom entgegen zu nehmen). „Ich habe es immer gewusst“, sagte sie zufrieden, „ich wusste, dass viel in dir steckt.“

Was, wenn man mir diese Chance verwehrt hätte? Was, wenn ich schon nach einer Viertelstunde Schnuppern auf einer Wohngruppe aussortiert worden wäre, weil „unbeholfen“ (und apathisch und depressiv und….)? Ich wäre nicht Sozialpädagogin geworden, so einfach ist das.

Ich weiss, bei meinem jetzigen Arbeitgeber hätte ich mit 20 nie im Leben einen Praktikumsplatz erhalten. Aber: Mein jetziger Arbeitgeber ist der, der mir einen freiwilligen Bonus auszahlte im Dezember, „weil du es verdient hast“. Man achtet mich, man schätzt mich. „Ich habe einen guten Instinkt für gute Leute“, sagte der Insitutionsleiter einmal selbstzufrieden, als es um meine Einstellung ging. Ich will damit nur sagen:

Es kann sich auch für einen Betrieb lohnen, in jemanden zu investieren, der es „noch nicht drauf hat“. Vielleicht wird aus diesem Menschen nämlich einmal jemand, den man zu den „guten Leuten“ zählt.

„Stell dir vor, da steht ein Schizophrener vor einer Klasse.“

Weiterbildungstag, Mittagspause: Ich sitze mit 7 Mitstudierenden (ausser mir alles Lehrpersonen / Heilpädagogen) in einem Restaurant, die meisten haben schon fertig gegessen, das Gespräch ist lebhaft, ich kam gerade von Klo und hatte deswegen den Einstieg verpasst. Offenbar geht es gerade um den Beamtenstatus von Lehrpersonen in Deutschland, zwei meiner Tischnachbarinnen kommen ursprünglich aus Deutschland und haben offenbar dieses merkwürdig klingende Verfahren hinter sich gebracht. „Wirklich schlimm fand ich ja auch diesen Gesundheitscheck“, erzählt eine von ihnen, „da musstest du ja nachweisen, dass du nie wirklich krank warst, dass auch in deiner Familie keine schweren Erbkrankheiten vorkommen und dein BMI im Normbereich liegt.“ Da mische ich mich ins Gespräch ein: „Das ist jetzt nicht dein Ernst?! Dein Gewicht hat Einfluss darauf, ob du den Beamtenstatus erhältst oder nicht?!“ Die Kollegin zuckt resigniert mit den Schultern: „Doch, das ist so. Ich war einige Kilos zu leicht und musste zu einer Ernährungsberatung.“ „Und du darfst keine „gravierenden Krankheiten“ haben?! Was ist mit Hör- oder Sehbehinderungen? Was ist mit Diabetes? Was ist mit körperlichen Behinderungen? Was ist mit psychischen Krankheiten?!“ Die andere Kollegin schüttelt den Kopf. „Das geht alles nicht. Könnte ja sein, dass du deswegen länger ausfällst.“ Ich schnappe nach Luft. „Und was ist, wenn du zum Zeitpunkt dieser Beamtenstatus-Sache kerngesund bist und dann Jahre später dein Mann stirbt und du in eine Depression rutschst?!“ „Dann hattest du quasi „Glück“, weil wegnehmen können sie dir den Status nicht mehr. Fakt ist, sie wollen grundsätzlich nur „kerngesunde“ Beamte.“

An diesem Punkt des Gespräches höre ich in meinem Kopf ein knirschendes Geräusch, das Geräusch, wenn eine Sicherung Feuer fängt und bald darauf in aller Form durchbrennen wird. „Aber… huere Siech!! Bedeutet das, jemand mit einer chronischer Krankheit oder Behinderung kann keine gute Lehrperson sein oder was?! Was zur Hölle steckt da für ein Menschenbild dahinter?! Wie zur Hölle sollen wir Kindern „Toleranz“, „Inklusion“, Chancengleichheit, all die Sachen vorleben, wenn die Vorbilder und Pädagogen in einem solch massiv exklusiven System ausgewählt werden?! Warum kann jemand im Rollstuhl, jemand mit Diabetes oder jemand, der eine Depression durchlebt hatte, quasi nicht in „gut“ genug sein für diesen Status?!“ Ich schnappe nach Luft. „Na ja“, ergreift der Heilpädagoge mir gegenüber das Wort, „du musst halt auch die ökonomische Seite sehen. Willst du wirklich Angestellte, die nicht belastbar sind oder eventuell immer wieder ausfallen?“ „Huere Siech“, meine Stimme wird immer lauter, erkenne ich in dem Bruchteil eines Moments, als sich die Personen am Nebentisch zu mir umdrehen, „hast du wirklich das Gefühl, dass du durch eine solche Auswahl künftige personellen Ausfälle verhindern kannst? Du kannst genetisch perfekt sein, eine genetisch perfekte Ahnenreihe haben, den perfekten BMI aufweisen, und dann brichst du dir im Skiurlaub beide Beine und fällst dennoch enorm lange aus!! Und, verdammt, sogar wenn du eine psychische Krankheit hast, heisst das nicht, dass du ständig ausfällst oder deinen Job als Lehrperson nicht genau so gut erledigst wie der Kollege aus dem einwandfreien Genpool!“ „Also, jein, würde ich sagen“, der Heilpädagoge runzelt seine Stirn, „du willst doch nicht, dass da ein schizophrener Typ vor einer Klasse steht und einen psychotischen Schub durchmacht, also, da hört es dann doch echt auf.“

Wie soll ich sagen, ich habe das Gespräch mit dem Heilpädagogen dann abgebrochen, weil ich merkte, dass mein Drang, ihn zu schlagen, immer grösser wird. Das Thema liess mich aber auch für den Rest des Tages nicht los. Ich habe es mit einer der deutschen Kolleginnen noch mal angesprochen, und im Gegensatz zu unserem männlichen Kollegen war sie absolut meiner Meinung. Ich könnte die Auseinandersetzung mit dem Kollegen jetzt daher auch unter „Diskussionen mit Idioten“ ablegen und es gut sein lassen, mit der Idee „er ist halt ein ignorantes Arschloch und weiss es nicht besser“.

Es gelingt mir aber nicht wirklich. Der Mann ist Primarlehrer und hat den Master in Heilpädagogik. Wenn der so tickt, dann hat das eine weit grössere Bedeutung für mich als wenn er, keine Ahnung, Architekt oder Metzger wäre. Wenn der so tickt, und da spielen subjektive unschöne Erlebnisse in meinem beruflichen Werdegang hinein, sich auch noch getraut, diese Meinung so zu vertreten, dann wird er sich ausreichend weit abgestützt fühlen durch andere pädagogische Berufsleute. Ich hatte nicht das Gefühl – und da mag ich mich auch täuschen, aber anyway – dass er mich „nur“ provozieren wollte. Ich hatte vielmehr ganz fest das Gefühl, dass das seine tiefste Überzeugung ausdrückt. „Wir (genetisch einwandfreien, kerngesunden Lehrpersonen) vs. ‚Das Pack‘„, ich hatte mich da bereits einmal dazu ausgelassen.

„Niemand kann Schizophrene in einem pädagogischen Beruf wollen“, „psychisch Kranke sind für pädagogische Berufe nicht geeignet“, „Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten sind für pädagogische Berufe nicht geeignet“, „Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten sind für „wichtige“ Berufe nicht geeignet“, man kann die Quintessenz dieser Meinung spezifischer oder genereller einordnen, auch je nach dem, wie viele innere Sicherungen bei diesen Äusserungen gerade so durchgebrannt sind. Und, so nebenbei, ganz offensichtlich ist die letztgenannte Quintessenz immerhin dermassen verbreitet, dass es in Deutschland zu einer klaren Exklusion von sehr, sehr vielen Menschen kommt, wenn es um Privilegien wie einen Beamtenstatus geht. Da kann man in meinen Augen dann schon von einem „gesellschaftlichen Grundproblem“ reden, das geht über die Relation „ignorantes (Einzel-) Arschloch“ weit hinaus.

Es geht mir übrigens nicht darum, das deutsche System „Beamtenstatus“ auseinander zu nehmen, dafür kenne ich es schlicht viel zu wenig. Ich habe auch nicht das Gefühl, „OMG, die Deutschen sind ja offenbar total schlimm drauf“, nein, der Grund, warum ich hier einen solch langen Text zu diesem Thema poste, ist wirklich die Erfahrung, dass mein sehr schweizerischer Studienkollege nicht alleine ist mit dieser Denke. Dass auch hier in der Schweiz so viele Pädagogen irgendwas von Integration oder gar Inklusion schwafeln (müssen), sich aber selber nicht vorstellen können, einen schizophrenen Mitarbeiter zu haben. „Bei Schizophrenie hört es dann ja wirklich auf“, ist der Groove, aber auch „nur“ depressive Mitarbeiter sind ja voll mühsam bis nicht vorstellbar, weil die ständig ausfallen und „einfach nicht im richtigen Job“ zu Hause sind – weil „da muss man ja echt belastbar sein“.

Und ich? Ich hätte den Heilpädagogen wirklich gerne geohrfeigt, ausserdem war ein Impuls, ihn anzuschreien „ich habe eine schizo-affektive Störung und ich bin verdammt gut in meinem Job, du Sack!“ Aber wir sassen in einem Restaurant, 6 weitere Kolleginnen und jede Menge Fremde waren anwesend, und weder die Ohrfeige noch ein ungeplantes, völlig emotionales Outing meiner Krankheit hätte ich im Nachhinein wohl als gute Reaktion eingestuft – also liess ich beides bleiben. Im Klartext, ich war unglaublich wütend, mittlerweile bin ich eher traurig und verletzt. Es tut weh!! Ins Gesicht gesagt zu bekommen, dass ausgerechnet „mein“ Krankheitsbild (jaja, ich habe nicht Schizophrenie, aber so weit weg ist meine Krankheit da nicht, und psychotisch war ich ja echt schon einige Male) wirklich undenkbar bis „absurd“ ist im Zusammenhang mit pädagogischen Berufen, das tut wirklich unglaublich weh. Im Prinzip fühlt sich das an, als ob er gesagt hätte: „Du bist völlig unberechenbar“, „du bist eine Gefahr für die Kinder, die du betreust“, „niemand kann wollen, dass du diesen Beruf ausübst“. Und das, ich kann mich nur wiederholen, das tut verdammt weh, vor allem, wenn ich mit vorstelle, dass da nicht nur dieses eine Arschloch spricht, sondern dass er das stellvertretend für eine breite Mehrheit tut. Da kann ich fachlich gegen diese Haltung argumentieren wie ich will – und ich bin sicher, dass ich auch fachlich Recht habe – letztendlich geht es um mich, meine Person, das Gefühl, dass, ganz egal wie gut ich arbeite, wie kompetent ich werde, wie viel Lob und Anerkennung ich auch erhalte, ich in den Augen solcher Menschen NIE auf ihrer Stufe stehen werde, sondern beim Abschaum weit unter ihnen bleibe, wenn sie denn um meine Diagnose wissen.

Ich hatte so viel Hoffnung geschöpft beim Outing einer befreundeten Person, und jetzt im Moment fühle ich mich wieder absolut unfähig, mich selber im beruflichen Umfeld je zu outen. Vielen Dank auch, Arschloch.

Die Sache mit der Offenheit.

Es fing harmlos an. „Oh, hallo!“, ich stellte mich zu der jungen Mitarbeiterin am Arbeitsbahnhof. Sie seufzte tief: „Hallo. Bald sind endlich Ferien.“ „Fährst du weg?“ Ich fragte nicht nur floskelhaft, sondern aus ehrlichem Interesse. Wir kennen uns schon eine Weile, und ich mag sie, ausserdem finde ich es immer interessant, wohin Menschen in den Urlaub fahren. Sie erzählte mir von ihren Plänen und fragte irgendwann zurück. „Vielleicht fahren wir im Herbst nah Costa Rica“, meinte ich, und als irgendwann der Zug da stand und wir einstiegen, waren wir mitten in einem Gespräch über Reisen und Reiseziele.

„Am schönsten waren ja klar meine Reisen, die ich alleine gemacht haben“, meinte sie irgendwann. „So ganz alleine quer durch Südamerika zu reisen, das war etwas, das ich nie vergessen werde.“ Oh, ich auch nicht, denke ich, sage aber „das würde ich ja auch gerne machen, alleine reisen. Leider kann ich das erwiesenermassen nicht.“ „Also, wie meinst du das, du kannst nicht? Möchtest du es nicht?“, fragt sie erstaunt. „Nein, ich möchte schon, sogar sehr gerne, aber ich kann es leider nicht.“, wiederhole ich. „Wie meinst du, du kannst das nicht?“, sie wirkt verwirrt. „Ich habe es versucht, sogar schon mehr als einmal, und bin dabei in verheerendem Ausmass gescheitert“, ich verfluche mich langsam, dass ich überhaupt einen ehrlichen Kommentar abgegeben habe. „Was passiert denn, wenn du es machst? Hast du Angstzustände?“, sie bleibt hartnäckig. „Na ja, es passiert… ganz viel, würd ich sagen.“ Ich versuche, unverbindlich zu lächeln. „Ich habe lernen müssen, dass ich das leider nicht kann. Ich kann andere Sachen machen. Mit meinem Freund reisen, zum Beispiel, das funktioniert wunderbar. Wir sind ein gutes Team.“ Ich erzähle ihr von Island und von unseren diversen Backpacker-Ferien und manövriere mich dabei mehr oder weniger – ok, definitiv weniger – unauffällig aus der Situation.

Ich kenne solche Situationen und ich kenne solche Gespräche. Ich kann normalerweise problemlos das Thema wechseln oder halt einfach unverfängliche Antworten geben, wenn mich jemand aus irgendeinem Zusammenhang auf biographische Details anspricht, die ganz klar mit meiner Krankheit zu tun haben, welche ich ja eben im beruflichen Kontext unbedingt verschweigen will. Oder muss. Oder will, weil ich das Gefühl habe, dass ich muss. Wie auch immer. Ich hätte das Gespräch vermutlich wirklich schon in eine andere Richtung lenken können, bevor die Kollegin hartnäckig nachfragte. Es verstört mich manchmal ja selber, wie geschickt ich mittlerweile vertuschen, verschleiern, das Gespräch umlenken kann, wenn mein ausgezeichnetes Frühwarnsystem meldet „Gefahr, Gefahr! Vertuschungsmanöver aktivieren, ich wiederhole, Vertuschungsmanöver aktivieren!!“ – ohne dass ich „richtig lügen“ muss, was mir sehr entgegen kommt, weil ich ja eben nicht (zumindest fast gar nicht) lügen kann.

Ich hätte, um es kurz zu fassen, die Situation vermutlich verhindern können. Aber ich wollte eben nicht. Oder nur halb. Oder erst, als es unangenehm wurde.

Seit mindestens 3 Jahren schon wünsche ich mir, endlich mit dem ganzen Scheiss aufzuhören. Endlich Tacheles zu reden, endlich nicht mehr so zu tun, als müsse ich mich für meine schizoaffektive Störung schämen. Endlich einfach zu mir und meinem Leben, zu all meinen psychotischen Episoden, meiner Paranoia, meinen Psychiatrieaufenthalten, meinen Depressionen, meinen Manien, zu all den Unmengen an Psychopharmaka zu stehen, die ich in den letzten 14 Jahren so geschluckt habe. Aber dieser Schritt ist mir immer noch zu gross. Ich habe Angst, sehr grosse Angst, was mit meiner beruflichen „Karriere“ passieren könnte, sollte ich das tun. Ich mag meinen Job und ich habe endlich ein Fachgebiet gefunden, das mich nachhaltig begeistert und motiviert. Ich habe wohl das erste Mal überhaupt in meiner Laufbahn grosse Pläne, was ich alles erreichen könnte, was ich alles noch machen möchte. Ich finde, ich mache meinen Job sehr gut. Ich finde, ich habe mir was aufbauen können in den letzten 3 Jahren. Ich möchte nicht wieder zurück in einen (intellektuell) simplen, aber für mich psychisch und physisch furchtbar anstrengenden stationären Betreuungsjob zurück. Ich habe, blöd gesagt, Ambitionen. Vielleicht mache ich irgendwann eine Coaching-Ausbildung, male ich mir aus, oder ich versuche, bei einer Beratungsstelle einen Job zu ergattern. Oder gar bei einer kantonalen Behörde. Oder ich mache mich selbständig.

Ich habe viele Ideen. Und alle erfordern einen guten Ruf. Die Schweiz ist ein kleines Land, meine Branche ist ein Filz sondergleichen. Wenn meine psychiatrische Diagnose die Runde macht, muss ich darauf vertrauen, dass die Menschen ihr gelassen begegnen. Oder auch: Was dann passiert, entzieht sich meiner Kontrolle. Dinge, die sich meiner Kontrolle entziehen wiederum, um es salopp auszudrücken, gehen mir tierisch auf den Sack.

Auf Twitter äusserte ich einmal, irgendwann im hohen Alter sei ich dann vielleicht bereit, bei den illegalen Pokerrunden im Altersheim nach ein paar Joints mit meinen Psychosen anzugeben und im Anschluss, bewaffnet mit einem Rollator, einem Megaphon und einer Schnapsflasche, jedem im Dorf davon zu erzählen, ein öffentliches Outing, quasi, zu vollziehen. Aber ehrlicherweise möchte ich das nicht erst tun, wenn der Übergang von Psychose zur Demenz fliessend ist.

Hätte ich unbegrenzte Energie-Reserven und genug Mumm, möchte ich durchaus auch zur Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten beitragen. Möchte helfen, dass die Gesunden Ängste abbauen können gegenüber Menschen wie mir. Möchte für Fairness kämpfen, für einen toleranteren Arbeitsmarkt, für eine inklusivere Gesellschaft.

Das Gespräch mit der Arbeitskollegin ist für mich das perfekte Symbol meines Dilemmas. Ich möchte offen sein in Bezug auf meine Krankheit und meine Biographie, gleichzeitig möchte ich das auf keinen Fall. Wenn ich selber nicht weiss, was und wie ich von meiner Krankheit erzählen kann, führt das zu unangenehmen Situationen, in denen meinem Gegenüber aufgeht, dass ich irgendwas verheimliche. Ich muss in mir selber Klarheit schaffen. Was gebe ich preis, wem, und wie? Wie mache ich einen ersten Schritt in die Richtung, die ich schon so lange einschlagen möchte? Was mache ich, wenn es schief geht? Was mache ich, wenn ich mir meine berufliche Zukunft verbaue damit? Was mache ich bloss?

„Warum wird jemand wie du ausgerechnet Sozialpädagogin?“

Diese Frage habe ich in den letzten 13 Jahren schon ein paar Mal gehört, am häufigsten wohl in meiner letzten großen Krise 2012. „Jemand wie ich“, das bedeutet in diesem Zusammenhang jemand mit einer klangvollen psychiatrischen Diagnose wie meiner (schizoaffektive Störung). Ich muss aber ehrlich sein: Die Person in meinem Leben, die diese Frage mit Abstand am häufigsten gestellt hat, war ich selber. Es gibt nichtsdestotrotz einige gute Gründe für meine Berufswahl, die ich an dieser Stelle festhalten möchte. Und ich möchte an dieser Stelle bewusst nur diejenigen Gründe auflisten, die mich für diesen Beruf meiner Meinung nach qualifizieren, nicht diejenigen, die für mich selber und mein Leben von Vorteil sind (Sachen wie: Ich habe dank meinem Beruf gelernt zu putzen, zu kochen, Konflikte auszutragen etc, was durchaus nennenswerte positive Nebeneffekte meiner beruflichen Tätigkeit sind – aber um die geht es hier gerade nicht.).

Es folgt also eine Auflistung von Eigenschaften und Fähigkeiten, von denen ich überzeugt bin, dass sie mich zu einer guten, kompetenten, fähigen Sozialpädagogin machen, und das völlig losgelöst von meiner Biographie und / oder psychiatrischen Diagnose.

  • Ich interessiere mich für Menschen, deren Verhalten und deren Geschichte. Ich bringe eine gewisse Grundneugierde mit, die ich für dieses Berufsfeld wichtig finde.
  • Ich mag Menschen. Nicht alle, klar. Aber grundsätzlich finde ich Menschen und deren Sozialverhalten spannend, und ich habe in meinem Berufsleben viele Menschen kennen gelernt, die ich mochte. Ich mag insbesondere die Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, etwas aus dem Rahmen fallen.
  • Ich habe soziale Stärken. Dazu gehört zum Beispiel meine Empathie. Ich kann mich, und das wurde mir erst im Verlauf meiner beruflichen Erfahrung bewusst, manchmal deutlich besser in die Situation meiner Klientel versetzen als diverse meiner Berufsgenoss*innen. Besonders in der Arbeit mit einer Klientel, die sich schlecht oder gar nicht verbal ausdrücken kann, ist sowas enorm wichtig – und ebenso das Wissen darum, dass diese stellvertretende Deutung immer eine reine Hypothese ist.
  • Ich kann gut beobachten, und ich lasse mich nicht so schnell täuschen.
  • Ich bin absolut loyal und teamfähig.
  • Ich kann mich in Konflikten mit Kindern oder Jugendlichen abgrenzen. Ich nehme nicht so schnell etwas persönlich, sondern weiss, dass ich oft einfach eine Projektionsfläche bin.
  • Ich bin konsequent, auch wenn es unbequem wird.
  • Ich bleibe ruhig, wenn die Fetzen fliegen. Und ich bin sicher, dass das häufig mehr bringt, als auszuflippen.
  • Ich habe sehr viel Geduld.
  • Ich habe viel Humor.
  • Ich kann auch einfach mal schweigen. Nicht zu unterschätzen. (Das meine ich ernst. Nach heftigen Konflikten neben einem Kind sitzen und mit ihm zusammen einfach schweigen kann absolut wertvoll sein.)
  • Ich lerne gerne dazu. Wenn ich merke, dass ich in einem Bereich noch nicht genug Wissen oder Know how mitbringe, versuche ich, diese Lücke zu füllen.
  • Ich schätze konstruktive Kritik, und ich bin fähig, mein Verhalten zu reflektieren und Grundhaltungen zu hinterfragen.
  • Ich freue mich über Entwicklungsschritte, und ich freue mich, wenn ein Mensch an Autonomie und Selbstkompetenz gewinnt. Mitzuerleben, wie jemand Fortschritte macht, ist das Schönste an meinem Beruf.
  • Ich kann zuhören, ohne dabei ständig meine Weisheiten zum Besten geben zu müssen. Auch das ist nicht zu unterschätzen. Ich gehöre nicht zu der Gruppierung von Berufskolleg*innen , die sich selber so gerne reden hören, dass sie sich nicht mehr auf ihr Gegenüber einstellen können.

Meine Antwort auf die Frage „warum [zur Hölle] wird jemand wie du ausgerechnet Sozialpädagogin?!“ ist daher mittlerweile eine simple, und das ganz unabhängig davon, wer sie gerade stellt: „Weil ich gut bin in diesem Job.“

(Eat this, Igor.)

Igors Rückkehr.

Erinnert ihr euch noch an meinen Ex-Chef Igor? Genau, das Ekelpaket, ausgebildeter Sozialpädagoge, das mich gefeuert hat, als ich ihm meine Diagnose offenbarte: „Wenn ich gewusst hätte, dass du psychisch krank bist, hätte ich dich nie angestellt.“Das Ganze ist mehr als 6 Jahre her. Aber so versöhnlich ich sonst auch sein mag, Igor verzeihe ich nicht. Igor bleibt der Typ, den ich nicht grüsse, wenn ich ihm zufällig über den Weg laufe (in den letzten 6 Jahren 3mal). Igor bleibt der Typ, dem ich Panikattacken, Paranoia, Depressionen, Armut, Sucht, eine untreue Frau sowie Furunkel am Arsch wünsche. Igor ist der Grund, warum eine gewisse grössere Ortschaft, ÖV-technisch gut gelegen, als Wohnort nie in Frage kommen wird, weil er da wohnt, zumindest vor 6 Jahren. Igor ist auch der Grund, warum ein gewisser grösserer Betrieb meiner Branche nie, nie, nie wieder als Arbeitgeber in Frage kommt.

Soweit so gut. Längst habe ich einen anderen Job in einem anderen Kanton, längst habe ich die damalige sowie die nächstfolgende psychische Krise durchgestanden, und längst glaubte ich, diese unschöne Geschichte definitiv ad acta legen zu können. Wir schreiben das Jahr 2016, und ich sitze meinem aktuellen Chef in dessen Büro gegenüber, wir sind daran, mein diesjähriges Mitarbeitergespräch abzuschliessen. Ein wirklich positives Gespräch, übrigens, und ich denke nicht einmal im Entferntesten an Igor (der mich bei den zwei offiziellen Mitarbeitergespräche über alle Massen gelobt hatte, bevor er mich dann in die Wüste schickte, als ich krank wurde). Mein aktueller Chef hängt also gerade noch einige organisatorischen Informationen an das offizielle Gespräch an, und da passiert es: „Blablabla… Berufswahlwoche der Oberstufenschüler…. Blablabla… Schüler mit Autismus… Blablabla… Einzelbetreuung durch dich… Blablabla… Betrieb XY.“ Ich glaube erst, ich hätte mich verhört. „Betrieb XY?“ „Ja, genau, du besichtigst den mit diesem Schüler.“ Betrieb XY ist, wie sollte es anders sein, Igors Betrieb. Ich atme tief durch. Wie soll ich reagieren? Schliesslich räuspere ich mich. „Hüstel, weisst du, dass ich dort mal gearbeitet habe?“ Mein Chef blickt mich erfreut an: „Nein, das wusste ich nicht, das ist ja super, dann kannst du…“ Ich unterbreche ihn. „Ich bin dort nicht im Guten weg.“ Jetzt schaut er verwirrt: „Oh?“, und ich fahre sehr langsam und sehr betont fort: „Ich hatte enorme Differenzen mit meinem damaligen Chef. Ich möchte dem nicht begegnen, wenn sich das verhindern lässt.“ Mein aktueller Chef wirkt zunehmend überfordert. „Also, äh, ich weiss jetzt nicht genau.. Also…“ Ich frage „Wo genau muss ich denn hin? Betrieb XY ist sehr gross.“ Mein Chef scheint froh, dass ich wieder pragmatischere Äusserungen von mir gebe. „Das weiss ich nicht genau. Das sollte dir der zuständige Gruppenleiter sagen können. All das ist erst in der Anfangsphase der Planung.“ Ich atme tief durch, und mein Chef lenkt das Gespräch in eine andere Richtung. Auch ich rede lieber über etwas anderes, ohne Frage, aber als ich den Raum schliesslich verlasse, ist es offenbar definitiv beschlossen: Ich muss da hin, mit einem Schüler im Schlepptau.

Gerne würde ich jetzt berichten, wie souverän ich das innerlich manage. Wie professionell ich das Ganze sehe, wie weit drüber ich da stehe. Die Wahrheit ist: Bereits im Zug nach Hause googelte ich die Firma XY. Überprüfte alle Namen, die zu finden waren. Igors war nicht dabei. Entweder, er hat nicht mehr eine leitende Funktion, oder er arbeitet nicht mehr da. Ersteres kann ich mir nicht vorstellen. Igor ist nicht der Typ, der freiwillig zurück tritt auf einer Karriereleiter. Er ist durch und durch ein Streber, und er strebt unter anderem nach einem höheren Status. Und selbst wenn Igor den Bereich gewechselt hat (wie gesagt ist es ein sehr grosser Betrieb mit diversen Standorten), den Bereich, den ich mit dem Schüler besuchen soll, liegt eigentlich ausserhalb der möglichen Arbeitsfelder von Igor. Es müsste sich also einiges an kosmischer Energie gegen mich verschworen haben, sollte ich an diesem unseligen Tag wirklich auf Igor stossen.

Wer nicht weg ist, sondern immer noch die selbe Stelle inne zu haben scheint wie vor 6 Jahren, ist Igors Chef. Er war beim zweiten und letzten desolaten Gespräch für mich in diesem Betrieb dabei. Er war der Typ, der Igor dabei gefragt hat, ob er sicher sei, dass er mich nicht mehr als Mitarbeiterin wolle, und er war auch der Typ, der die Abfindung ins Spiel brachte als „aussergerichtliche Lösung“. Ihm schien dieses Gespräch damals einigermassen unangenehm. Wie dem auch sei, auch auf den Typen bin ich nicht scharf. Die ganze Geschichte hat tiefe Verletzungen und irgendwann deutliche Narben hinterlassen. Es ging nicht nur um Igor. Er war das grösste Arschloch bei der Geschichte, aber es ging um viel mehr. Ich wurde psychotisch, und das bei der Arbeit, ausgerechnet in einem Lager am Arsch der Welt, als eine von 4 Betreuungspersonen mit 33 jungen Erwachsenen mit sozialen Problemen, Suchtverhalten und psychischen Krankheiten.

Psychosen sind traumatisch. Psychosen sind der Stoff meiner Flashbacks, der Stoff meiner Albträume, der Stoff meiner Selbstkasteiung, der Stoff meiner Scham. Seit ich 10 bin, ist Scham die Emotion, die mein Leben am meisten prägt. Ich schäme mich für mein Fehlverhalten, ich verbringe einen grossen Teil meines Lebens damit, mich für irgendwas zu schämen, das ich gesagt oder gemacht oder auch nur gedacht habe. Die Dinge, die ich sage oder tue, wenn ich psychotisch sind, entziehen sich meiner Kontrolle. Wenn man sich also vorstellt, wie oft und wie fest ich mich bereits für etwas schäme, das ich im vollen Besitz meiner geistigen Fähigkeiten gesagt oder gemacht habe, erhält man einen kleinen Vorgeschmack darauf, wie oft und wie fest ich mich erst für Dinge schäme, die ich in einem Zustand völliger Desorientierung und geistiger Umnachtung getan oder gesagt habe.

Ich war also psychotisch, damals, was in meiner verheerenden Situation dazu führte, dass ich meine Geschichte, mein Befinden, meine Wahrnehmung nicht mehr von der der jungen Menschen trennen konnte, für die ich verantwortlich war. Ich wurde paranoid, ich konnte mich nicht mehr abgrenzen, ich wurde komplett unprofessionell. Unterstützt wurde all dies durch absolut fragwürdige Umstände dieses Lagersettings. Ich war die einzige Frau und die einzige Erwachsene, die auf dem selben Stock wie die jungen Menschen mit wirklich happigen Biographien schlief, und zwar neben dem Zimmer der 5 jungen Frauen. Ich hatte den Auftrag, zu verhindern, dass die Jungs sich nachts dort aufhielten. Es hatte Frauen dabei, die jahrelang sexuell missbraucht wurden. Dieser Auftrag führte dazu, dass ich nicht mehr schlief. Also, gar nicht. Ich hörte jeden Schritt, hörte jeden und jede, die sich neben meiner Zimmertür durchschleichen wollte. Wie dem auch sei. Ich war ab dem 3. oder 4. Tag bereits total psychotisch. In diesem Zustand durchhalten zu müssen, das Ganze „aussitzen“ zu müssen war der Horror, in meiner Psychose hatte ich jedoch das Gefühl, ich müsse da jetzt durch, sah mich als Märtyrerin oder so. In der Woche nach dem Lager ging ich weiterhin arbeiten. Ich hatte die Grenze so weit überschritten, dass ich selber nicht mehr realisierte, dass ich psychotisch war. Ich gestand mir das erst ein, als mich Igor direkt ansprach und sagte, dass mit mir etwas nicht stimmt. Erst da habe ich verstanden, dass ich krank war.

Alles, was danach noch folgte, die Freistellung, die Demütigung, die Unterstellung, ich hätte „gelogen“, weil ich meine Krankheit nie erwähnt hatte, all das machte die Verarbeitung dieser groben Lebenskrise nicht einfacher. Ich fühlte mich nicht nur von Igor verraten, ich stellte mich und meine berufliche Identität grundsätzlich in Frage. Ich fragte mich, warum zur Hölle ich ausgerechnet Sozialpädagogin werden musste, wo ich doch dafür denkbar ungeeignet war. Ich war im Laufe dieser ganzen Auseinandersetzung mit diesem Arbeitgeber sicher, dass ich den Beruf verfehlt hatte. Alles, was ich in diesem Betrieb vor der Psychose professionell und kompetent geleistet hatte, und das war aus heutiger Perspektive viel, schien nach dem Desaster im Lager nicht nur für Igor, sondern auch für mich absolut wertlos.

Die Stelle bei Igor war meine erste als ausgebildete Sozpäd. Ich war dort offiziell 1.5 Jahre ansgestellt. Wir konnten uns darauf einigen, dass im Arbeitszeugnis stand, ich hätte den Betrieb auf meinen Wunsch hin verlassen. Trotz dieser angesichts meiner Situation grundsätzlich guten Umstände hatte ich Existenzängste. Was, wenn ich nie wieder eine Stelle finden würde? Wie sollte ich von meiner letzten Stelle erzählen? Wie konnte ich vertuschen, dass ich die letzen beiden Monate gar nicht mehr gearbeitet hatte, weil ich ja freigestellt wurde? Wen sollte ich als Referenz angeben?

Es ist alles lange her, und ich habe viel erlebt in der Zwischenzeit. Ich stehe mittlerweile beruflich an einem ganz anderen Ort, und meine ganzen Erfahrungen machen mich reifer und gelassener. Trotzdem, ich bin nicht scharf auf diese Konfrontation. Ich durfte mich damals nicht einmal von den betreuten Jugendlichen oder meinen beiden Mitarbeitern verabschieden. Nach anderthalb Wochen, in der ich mich krank schreiben liess und einer Woche Ferien wurde ich zu einem Gespräch geladen, wurde dort informiert, dass ich freigestellt war, musste Igor meinen Schlüssel aushändigen und hatte danach spurlos zu verschwinden, als ob ich nie dort gewesen wäre.

Eigentlich wollte ich nie, nie wieder einen Fuss in diese Einrichtung setzen. Ich weiss nicht, ob ich dort jemanden antreffen werde, den ich von damals kenne, und wenn ja, wen. Ich habe zudem einen pädagogischen Auftrag, ich muss mich um den betreffenden Jugendlichen kümmern und habe keinen Raum für meine ganzen Befindlichkeiten, Erinnerungen und Flashbacks. Ich muss mich unter Kontrolle haben und souverän reagieren, ganz egal, auf wen ich dort treffen werde und ganz egal, was sich dabei für Gespräche ergeben können.

Ich dachte, die Sache mit Igor sei ich los. Aber so richtig los werde ich sie wohl nie.

Ein Hoch auf die Naivität.

Claudia* ist eine dieser Personen, die mich schon seit Ewigkeiten kennen. Wir treffen uns unregelmässig, vielleicht so alle 2 Monate, und doch wissen wir meist genau, wo die andere gerade steht. Claudia ist ein ehrgeiziger Mensch mit ehrgeizigen Zielen, was sie von mir deutlich unterscheidet, und sie lebt ein gänzlich anderes Leben als ich – dennoch halte ich den Kontakt zu ihr aufrecht, weil sie mein Leben mit einer völlig anderen Sichtweise der Dinge bereichert, weil ich ihren messerscharfen Verstand schätze, weil sie trotz Karriere und hohem Einkommen herrlich bodenständig geblieben ist. Warum Caudia den Kontakt zu mir ebenfalls nicht abbrechen lässt, kann ich nur vermuten, ich denke, weil sie mich und mein Leben auf eine ähnliche Art faszinierend findet wie ich ihres.

Als ich Claudia das letzte Mal traf, hatte sie viel zu erzählen. Sie war gerade umgezogen – und schwanger. Sie erzählte mir mit der ihr eigenen trockenen, analytischen Art von den diversen Merkwürdigkeiten dieses Zustands, aber auch viel von ihrem Job, ihrem nächsten Karriereschritt und wie sie und ihr Partner die Sache mit der Kinderbetreuung hinbekommen wollen. Dann schwenkte sie den Fokus auf mich und mein Leben. „Wie geht es dir? Und wie geht es deinem Freund?“ Ich strahlte und sagte „mir geht es super, danke. Mein Freund wechselt die Stelle, und seine IV-Teilrente ist jetzt definitiv.“ Claudia war selbstverständlich informiert über die Lage meines Freundes, dennoch hob sie eine Braue: „Teilrente?… Aber jetzt mal ernsthaft: Soll das jetzt so weitergehen? Wird dein Freund jetzt einach bis an sein Lebensende von der IV leben?… Du weisst schon, dass im Moment die politischen Bestrebungen dahin gehen, solche Renten für psychsich Kranke abzuschaffen?…“ Claudia ist kein herzloser Mensch, sie sagt einfach, was sie denkt. Ich hielt ihr entgegen: „Keine IV-Rente ist dazu gedacht, „bis ans Lebensende“ ausbezahlt zu werden, das wird immer wieder überprüft. Es gibt gute Gründe, warum mein Freund von einem Psychiater der IV zu 64% arbeitsunfähig erklärt wurde. Niemand „schenkt“ einem heutzutage eine Rente, mein Freund hat eine klangvolle Diagnose erhalten. Ausserdem ist eine Teilrente finanziell völlig unattraktiv. Mein Freund kommt mit der Rente und dem Gehalt einer 30%-Stelle auf etwa 2200 bis 2400 CHF pro Monat.“ Claudia war einen Moment still. „So wenig?!“ „Ja, so wenig.“

Das Gespräch plätscherte weiter, und je länger, je mehr wird mir rückblickend klar, dass sich Claudia grosse Sorgen zu machen schien. „Das ist doch keine Perspektive“, „ja, aber, wie soll das weitergehen?“, „kann er sich nicht umschulen lassen?“, „wie sind denn die Heilungschancen bei dieser psychischen Störung?“, Claudia begann, nach Lösungen für meinen Freund zu suchen. „Schau, ich bin einfach nur froh, wenn es ihm wieder besser geht. Seit er gekündigt hat, hatte er keine Panikattacken mehr.“, versuchte ich, sie zu beruhigen. „Panikattacken? Wie wirkt sich das aus?“, fragte Claudia, und ich schilderte ihr die Symptome, die mein Freund aufweist, wenn er maximal gestresst ist: Er hyperventiliert, kriegt keine Luft mehr, führt Selbstgespräche, ist körperlich total angespannt, erträgt keine Berührung, tigert in der Wohnung auf und ab, legt sich hin, steht wieder auf, redet wieder vor sich hin, schnappt wieder und wieder nach Luft, legt sich wieder hin, zuckt unkontrolliert, steht wieder auf, hyperventiliert, und das, wenn es schlimm ist, die ganze Nacht lang. Claudias Augen wurden immer grösser. „Das klingt ja furchtbar.“ „Ist es auch. Ich sagte ja, einfach so wird man nicht als arbeitsunfähig eingestuft.“

Als sich Claudia und ich uns irgendwann verabschiedeten, sah sie mich mitfühlend an. „Ich wünsche dir alles Gute, und deinem Freund auch“, meinte sie. „Oh, ich euch auch!“, lachte ich, und ging meines Weges. Erst später ging mir auf, dass Claudia diese Floskel anders gemeint hatte als ich: Sie fand unsere Situation bedauernswert, sie machte sich Sorgen um uns, sie wollte ihr Mitgefühl für die schwierige Lage meines Freundes ausdrücken.

Damit wir uns recht verstehen: All dies weist auf Empathie hin und macht Claudia sympathisch. Der Witz ist nur: Als ich ihr all das erzählte, hatte ich weder die Absicht, über irgendwas zu klagen, noch war mir klar, dass Claudia das so auffassen würde. Ich hatte nicht das Bedürfnis, getröstet zu werden oder Claudias Mitgefühl zu wecken, in meiner Wahrnehmung erzählte lediglich aus meinem bzw. unserem Leben, neutral, quasi, so wie Claudia von ihrem Umzug und der Schwangerschaft erzählte, erzählte ich die neusten Geschehnisse in unserem Leben. Dass ich ihr die Symptome meines Freundes schilderte, lag daran, dass sie danach gefragt hatte, dass ich ihr vorrechnete, wie schmal sein Budget ist, lag daran, dass ihre Aussagen für mich so klangen, als sei eine Teilrente in ihren Augen eine bequeme Angelegenheit und im Falle meines Freundes zudem ungerechtfertigt. Ich hatte nicht vor, unser „Leid“ ins Zentrum zu rücken, ich erzählte einfach aus unserem Alltag, und die gesundheitliche und berufliche Situation meines Freundes nimmt halt momentan viel Platz ein, wie in ihrem gerade der Wohnungswechsel und die Hormonschwankungen.

Vielleicht muss ich ein anderes Mal deutlicher klarstellen: Mir geht es gut, ich bin zufrieden mit meinem Leben. All das Gedöns mit IV, mit Panikattacken, mit Depression, mit Psychopharmaka, mit finanzieller Unsicherheit, das gehört halt einfach dazu, und ich bin froh, wenn ich ein Gegenüber wie Claudia habe, dem ich weder alles verschweigen noch alles schonend beibringen muss. Dass ich dann einfach frisch von der Leber weg erzählen kann, was mich gerade beschäftigt, führt dann halt auch unweigerlich dazu, dass ich die ganzen schwierigen Umstände erwähne, in denen mein Freund gerade steckt. Aber, noch mal: Ich will mich nicht beklagen, denn auch wenn es selbstverständlich nicht toll ist, in welcher Lage sich mein Freund befindet, so geht es ihm, geht es mir, geht es uns doch deutlich besser als auch schon. Wenn ich daran denke, wie es meinem Freund vor etwa 8 Jahren ging, als er noch eine leitende Funktion in einer grossen Firma und ein entsprechendes Gehalt hatte, muss ich sagen, wir sind heute beide besser dran. Die Fassade von uns beiden sah damals sicher besser aus, aber was dahinter lag, war kaputter als alles, was ich Claudia an diesem Abend erzählt hatte.

Vielleicht habe ich einen merkwürdigen Blick auf die Welt und unser Leben, vielleicht verdränge ich einfach all das Schlimme, vielleicht bin ich hoffnungslos naiv oder schlicht zu dumm, als dass ich die Tragik unseres Daseins begreife, ich weiss es nicht, aber ich möchte all das gar nicht ändern. Ich bin mit meiner Naivität zufrieden. Ich möchte sie nicht verlieren. Ich möchte nicht damit anfangen, unser Leben zu bedauern. Es gibt sehr viel Gutes in unserem gemeinsamen Leben. Es entspricht nicht der Norm, aber das sagt nichts über die Qualität aus. Die Dinge sind, wie sie sind, und das einzige, was zählt, ist die Frage, ob ich glücklich bin oder nicht. Und ja, ich bin glücklich.
*Claudia heisst in Wahrheit Jaqueline. Und die wiederum heisst Denise. Und so weiter.

Verfickt.

Ich weiss nicht, woran es liegt, aber ich mache gerade eine Art emotionale Phase durch. Innert weniger als einer Woche erneut mit den Tränen zu kämpfen, ist für jemanden wie mich erstaunlich. Heute war es nicht die Ohnmacht wie beim Vorfall im Bus, es war die Wut, die mich beinahe heulen liess. Die Wut über meine eigene Unfähigkeit, in der Öffentlichkeit zu meiner Krankheit zu stehen. An irgend einem Punkt des Abends war es dann auch die Wut auf meinen Freund, der die Frechheit besass, meinem Wut-Monolog nicht einfach stumm wie ein Fisch zu lauschen, sondern ihn mit Kommentaren zu versehen, die ich nun wirklich nicht hören wollte, sowie die Wut auf den Hersteller der verfickten Ravioli-Büchse, die ich nicht öffnen konnte, die Wut auf meinen verfickten weiblichen Zyklus, die Wut auf meinen verfickten Vorgesetzten, die Wut auf meinen verfickten Job, die Wut auf meine verfickte Krankheit, die Wut auf die verfickte Welt, die Wut auf die verfickte Wut.

Irgendwo zwischen „verfickt“, „verfickt“ und „verfickt“ liess dann meine Energie nach, und jetzt liege ich da, versuche, meine Gedanken zu sortieren und zur Ruhe zu kommen. Immer noch habe ich einen Lebenstraum, immer noch hoffe ich, irgendwann einmal in der Lage zu sein, um mich endlich für das einzusetzen, was mir wirklich wichtig ist: Menschen wie ich, Menschen mit psychischen Krankheiten. Es gäbe so viel zu tun. Es gäbe so viel zu diskutieren, es gäbe so viel zu schreiben, es gäbe so unendlich viele Berührungsängste abzubauen, so viele Tabus zu sabotieren. Ich möchte mich dem widmen. Ich möchte mutig sein, vor allem aber möchte ich endlich mich selber sein dürfen, mich nicht mehr verstellen, mich nicht mehr verstecken, mich nicht mehr verleugnen.

Vielleicht meint es das Leben gut mit mir, und ich finde irgendwann in den nächsten 30 Jahren einen anderen Beruf, mit dem ich mein Leben finanzieren kann, einen Beruf, in dem es nicht völlig undenkbar ist, mit einer schizoiden Störung tätig zu sein. Ich wäre gerne kreativ tätig, aber wer wäre das schon nicht. Ich bin Mitte 30, habe gerade eine teure Weiterbildung angefangen und müsste überall ausserhalb der Sozialpädagogik noch mal ganz von vorne anfangen. Ich weiss nicht, ob ich dieses Risiko je eingehen werde. Wir werden sehen.

Nerven aus Stahl.

Ich sitze im Bus nach Hause. Endlich. Ein doch recht anstrengender Tag mit etwa 6 Arbeitstunden, 3 ÖV-Stunden und über 1.5 Stunden im Wartezimmer einer Dermatologin liegen hinter mir. Es ist Pendler-Stosszeit, und der Bus ist gelinde gesagt bumsvoll. Ich vertiefe mich in mein Smartphone und habe die ganzen Menschen um mich herum schon so gut wie ausgeblendet, als ein paar Sitzreihen hinter mir urplötzlich ein gewaltiges Gebrüll losgeht. „NEIN!!!“ schreit eine junge Frau aus Leibeskräften, „du verdammtes Arschloch, ich war es nicht!!“ „Kommen Sie aus dem Bus, sofort“, die zweite Stimme ist männlich und gehört zu einem der drei jungen Polizisten, die die junge Frau eingekreist haben. „IHR VERDAMMTEN WICHSER, ICH STEIGE SICHER NICHT AUS DIESEM BUS RAUS!!“, die Stimme der Frau hat sich längst überschlagen, „ICH WAR ES NICHT!!!“. Es dauert nur wenige Augenblicke, und die Frau ist gegen ihren Willen draussen, immer noch umringt von Polizisten. Ihr Geschrei ist jedoch trotz geschlossener Bustüren problemlos Wort für Wort verständlich. Ein paar Sekunden lang tue ich es den ganzen Menschenmassen im Bus gleich und drehe meinen Kopf so, dass ich sie sehe. Sie sieht wirklich jung aus, vielleicht 20, gepflegt, geschminkt, mit schönen schwarzen Haaren und weit aufgerissenen dunklen Augen. Das Gekicher im Bus wird stetig lauter, während sie ungebremst Schimpfworte brüllt, in einer Lautstärke, als ob ihr Leben in Gefahr wäre. „Waaaas?! Das ist eine Frau?!?!“, gröhlen die Jungs neben mir, „die hat voll die psychische Störung, ey“, spottet die Tussi vor mir, mittlerweile lachen einige Passagiere aus vollem Hals. Und da, genau in diesem Augenblick, schiessen mir die Tränen in die Augen. Irgendwann fährt der Bus dann ab, und die ganzen Gaffer, die sich schier den Kopf ausrenken im Versuch, noch mehr Details mitzukriegen, drehen ihre Köpfe wie auf ein magisches Signal hin wieder in einer natürlichere Position zurück.

All dies kann ich nur noch erahnen, denn ich konzentriere längst meine ganze Energie darauf, nicht mitten im Bus, nicht mitten in dieser gröhlenden Meute in Tränen auszubrechen. Glücklicherweise habe ich in sowas jahrelange, wenn nicht jahrzehntelange Übung, und so hat sich wie geplant die Wohnungstür hinter mir geschlossen und ungeplanterweise mein Freund mich bereits nach irgendwas zu den Winterreifen fürs Auto gefragt, als ich die Beherrschung verliere und haltlos und – durchaus ähnlich wie die junge Frau – in respektabler Lautstärke anfange zu schluchzen. Es dauert sicher 5 Minuten, bis ich mir an der Schulter meines Freundes die Seele aus dem Leib geweint habe. „Das hatte doch nichts mit dir zu tun“, meint er beruhigend, „und du weisst ja nicht, worum es da überhaupt ging. Und du kennst die Frau doch gar nicht.“ Ja, damit hat er Recht, aber, erkläre ich ihm unter Heulkrämpfen, darum ging es nicht.

Es war die Reaktion der Leute, die ganzen Witze, Sprüche wie „haha, psychische Störung“, das Gaffen, das sich Weiden am Leid einer Person, die Sensationslust, die dreckige Freude daran, dass ein Mensch austickt, dass ein Mensch sich nicht mehr kontrollieren kann, das widerliche Gegröhle, all dies, was mich auch jetzt, mehr als eine Stunde später noch wieder zum Weinen bringt.

Bin ich überempfindlich? Ja. Es ist keine normale Reaktion, wegen sowas Tränen zu vergiessen. Aber, nur um das klarzustellen: Ich weine nicht oft. Ich bin keine dieser Tussis, die bei jedem drittklassigen Liebesfilm anfangen zu flennen. Ich weine meist entweder in einem Zustand völliger Überreizung oder aber, wenn es um Ungerechtigkeit geht, gegen die ich nichts ausrichten kann. Oder aber wenn ich mich wie in diesem Fall zusätzlich noch viel zu sehr mit jemandem identifiziere, den ich nicht mal kenne. Wenn man sich auch noch über psychische Krankheiten oder Behinderungen ungehemmt lustig macht, setzt mir das zu. Immer noch. Vermutlich mein Leben lang.

Von ExpertInnen und Betroffenen.

Bestimmt habe ich meinen Beruf hier schon dermassen oft erwähnt, dass sich manche fragen werden, ob ich mir a) darauf dermassen etwas einbilde oder aber b) ohne ihn kein Leben habe.

Zu a): Was für „erfolgreiche“ Berufsleute, bzw. Menschen mit einer steilen Karriere in der Privatwirtschaft lachhaft klingen mag, nämlich, dass ich stolz darauf bin, Sozialpädagogin zu sein, hat durchaus seinen wahren Kern. Nicht, weil ich denke, dass dieser Beruf besser sei als andere, sondern ganz einfach darum, weil es für mich nicht einfach war, überhaupt eine Ausbildung zu machen und auch abzuschliessen. Dass ich das trotz einer happigen psychotischen Episode im letzten Ausbildungsjahr geschafft habe, darauf, ja, darauf bin ich stolz – eingebildet jedoch hoffentlich nicht.

Zu b): Doch, ich habe ein Leben abseits vom Job. Ehrlicherweise muss ich aber zugeben, dass für mich die letzte Krise, als ich nicht mehr glaubte, je wieder auf meinem Job arbeiten zu können, gerade auch deswegen sehr happig war. Keine Arbeit mehr zu haben, keinen Beruf mehr zu haben, das war für mich eine schlimme Zeit.

Eigentlich möchte ich hier aber auf etwas anderes eingehen: Dass ich also als Sozialpädagogin mit einer schizoid-affektiven Störung schon diverse junge Menschen mit psychischen Krankheiten betreut habe, bringt ein besonderes Spannungsfeld mit sich. „ExpertInnen vs. Betroffene“, hier im Bereich von psychischen Krankheiten, ist für mich das Schlagwort. Ein bisschen, und jetzt würden sich ein paar PsychiaterInnen, die mich über die Jahre zu therapieren versuchten, vor Spott ins Hemd machen, sollten sie das je lesen, aber egal, ein bisschen also bin ich beides.

Betroffen bin ich nicht nur ein bisschen, betroffen bin ich durch und durch. Man kann sagen, ich habe einschlägige Psychose-Erfahrung. Ich wurde zweimal psychotisch von Psychiatern aus der Schweiz von einem fremden Kontinent heimgeholt, ich hab im Wahn eine Hoteltür zerlegt, ich bin 5 Stockwerke an einem Rohbau hochgeklettert war im Knast und bin fast verhungert, ich kann mit Fug und Recht behaupten: Als Betroffene einer psychischen Krankheit bin ich total qualifiziert.

Egal, was man nun allgemein gesehen vom psychiatrischen Fachwissen von SozialpädagogInnen halten mag: Ich hab im Bereich „Psychische Auffälligkeit“ gearbeitet, eher unabsichtlich übrigens, aber ich hab junge Menschen mit Schizophrenie, Borderline, Depressionen etc. betreut. Ich hab mir in dieser Zeit durchaus einiges an Basis-Fachwissen zu den einzelnen Diagnosen angeeignet, auch wenn ich weiss, dass einige ÄrztInnen solches „Fachwissen“ nicht ernst nehmen. Ich kann lesen, ich kann Fachbegriffe nachschlagen, ich lerne gerne dazu. Dieses Wissen aus Büchern und Weiterbildungen ist das eine.

Das andere ist, dass ich wirklich junge Erwachsene durch eine psychotische Phase begleitet habe. Dass ich junge Erwachsene mit selbstverletzendem Verhalten begleitet habe, dass ich einmal nachts einen jungen suizidgefährdeten Mann von den Bahngleisen geholt habe. Dass ich psychosomatische Brech-Attacken einer jungen Frau begleitet habe, tagelang, nächtelang. Dass mir mehr als einmal eine junge Frau weinend ihren Rasierer brachte, nachdem sie sich verletzt hatte, und wollte, dass ich ihn für sie wegschliesse. Dass ich einen halluzionierenden Jugendlichen nachts immer wieder versuchte zu beruhigen, im Viertelstundetakt.

Diese beiden Ebenen, „Fachwissen“ und Erfahrung, führen dazu, dass ich mir anmasse, zumindest ein bisschen auch Expertin im Bereich psychische Krankheiten zu sein.

Die grosse Krux ist nun leider die, dass ich im beruflichen Umfeld nur auf dieses kleine „Expertenwissen“ zurückgreifen darf, wenn es darum geht, mich über eine Situation bzw. einen Menschen mit meinen KollegInnen auszutauschen. Mein Wissen als Betroffene, wie sich eine Reizüberflutung anfühlen kann, wäre beispielsweise eigentlich viel ergiebiger, als das, was ich darüber aus Büchern weiss. Leider kann ich diese persönlichen Erfahrungen nicht mitteilen. Ich würde, sollte ich meine eigene Krankheit offenlegen, nicht mehr ernst genommen („du projizierst da deine eigene Geschichte… du verhältst dich unprofessionell… du wechselst die Fronten!!…“) oder gar gefeuert – alles schon erlebt.

Das Traurige ist: Es ist so selten, dass „ExpertInnen“ von Betroffenen lernen, bzw. es ist so selten, dass Betroffene als „ExpertInnen“ angesehen werden.

Ich erinnere mich an eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich in meiner Ausbildung – quasi abseits vom eigentlichen Studienziel – aus erster Hand von einer Betroffenen etwas lernen konnte. Wir waren im Modul Sucht auf Institutionsbesuch in einer Einrichtung für Frauen mit Suchtproblematik. Da erklärte die anwesende Sozialpädagogin, am besten Auskunft geben zum Thema Sucht könne ja wohl eine ehemalige Bewohnerin, eine junge Frau, die daneben sass. Diese bemerkenswerte Frau erzählte uns Studis dann sehr offen und sachlich aus ihrem Leben, aus ihrer Abhängigkeit, aus ihrem Entzug, aus ihrem Leben in dieser Einrichtung, aus ihrem Leben heute. Am meisten Respekt hatte ich vor dieser Frau, als sie am Ende ihrer Erzählung freundlich fragte: „So, was möchtet ihr mich fragen?“ Dass sie dazu bereit war, sich von einer Horde junger Studenten mit Fragen löchern zu lassen, wirklich bewundernswert.

Wie wichtig solche Erläuterungen und Inputs von direkt Betroffenen sind, zeigt sich schon nur an der Tatsache, dass ich wirklich sehr vieles aus meiner theoretischen Ausbildung an der FH vergessen habe – diese Erfahrungen dieser ehemaligen Suchtpatientin jedoch, die sind mir immer noch sehr präsent.

Niemand, das möchte ich zum Schluss noch anfügen, niemand, der von einer Krankheit selber nicht betroffen ist, versteht wirklich, wie sich das anfühlt. KeineR der PsychiaterInnen, die mich je behandelt haben, können sich wirklich vorstellen, wie sich eine Psychose anfühlt.

Es ist eine traurige Tatsache, dass in den Hörsälen der medizinischen Fakultät keine Betroffenen als Dozenten anzutreffen sind. Es ist eine traurige Tatsache, dass Betroffene wie ich sich nicht wagen zu outen, aus Angst, den Job zu verlieren. Es ist eine traurige Tatsache, dass eigene Betroffenheit im Bereich psychische Krankheiten einen als „Experten“ nicht auf- sondern abwertet.

Die netten Tabletten.

Zu akzeptieren, dass ich tagtäglich Medikamente einnehmen muss, um ein annähernd normales Leben führen zu können, hat mich mehrere Jahre gekostet. Legendär war der Absetzungsversuch vor 7 Jahren, als ich die Therapie bei der Psychiaterin des Grauens abbrach und 5 Jahren nach meiner ersten und bis dahin einzigen offiziellen Psychose beschloss, dass ich die tägliche Chemiezufuhr nicht mehr benötige. 3 Monate ging es ab da, bis ich mich mitten in einer saftigen Psychose wiederfand. Fast hätte mich dieser Versuch meinen Abschluss gekostet, befand ich mich doch damals im letzten meiner 4 Jahre an der FH, und auch meine 60% Stelle als Sozialpädagogin in Ausbildung stand durchaus in Frage. Mit letzter Kraft und viel Goodwill meiner damaligen Chefin schaffte ich all das dann doch noch, und ein Jahr später hatte ich mein Diplom und ein überschwängliches Arbeitszeugnis in der Tasche. Seither habe ich nie, ich wiederhole, NIE mehr versucht, eigenmächtig Medikamente abzusetzen. Seit fast drei Jahren nehme ich Seroquel, jeden Tag, was meine Psychose in Argentinien leider nicht verhindern mochte. Seit dieser Geschichte, die ich nur knapp überlebt habe, nehme ich allerdings die doppelte Dosis ein.

Ich weiss, dass es Menschen mit meiner Diagnose gibt, die sich gegen Medikamente wehren, die vielleicht auch wirklich ohne leben können. Ich kann das nicht, und ich werde es nie können. Ich werde bis an mein Lebensende Psychopharmaka schlucken müssen. Das habe ich, wie erwähnt, schon lange akzeptiert.

Leider glaubt das ein grosser Teil meines persönlichen Umfelds offenbar nicht. Vermelde ich, dass es mir nicht so gut gehe, oder, wie ich das meistens ausdrücke, dass ich „neben der Spur“ laufe, ist die unvermeidliche erste, panische Frage stets: „Hast du deine Medikamente nicht genommen?!“ Wenn ich äussere, dass ich mich irgendwie verändert habe, kommt prompt die Frage „hast du deine Medikamente umgestellt?!“ Und bin ich mal wieder zu offen und lasse einen Spruch fallen wie „so oft bin ich mir nicht sicher, ob ich die Tabletten nun geschluckt habe oder nicht“, folgt ein Vortrag zum Thema Dosett, wird hektisch herumgefragt, wo man die kaufen könne oder ob wer noch eines zu Hause habe, das ich nutzen könnte. Meine Erwiederung, dass ich selber so eines besitze, jedoch nicht benutze, verhallt ungehört, und ich kann die Familienmitglieder nur schwer davon abhalten, mir eines in meine Tasche zu stecken. „Denkst du, du seist zu cool für sowas?!“, sind dann die sarkastischen Kommentare, und auch „du hast es OFFENSICHTLICH nicht im Griff!!“. Ich mag mich nicht verteidigen, ehrlich gesagt, ich gehe auf sowas gar nicht mehr ein. In den letzten 7 Jahren habe ich, abgesehen von den Tagen, in denen ich in Argentinien psychotisch herumstreunerte, vielleicht zwei, dreimal meine Tabletten wirklich nicht genommen. Ich habe mein eigenes System, wie ich daran denke. Es kommt vielleicht ein paar Mal vor, dass ich sie später einnehme als geplant, weil ich ja wirklich manchmal nicht gut organisiert bin und aufgrund eines spontanen (ok, manchmal auch geplanten) längeren Aufenthaltes irgendwo weg von zu Hause keine Tabletten dabei habe. Und es kommt manchmal vor, dass ich rätselnd im Bad stehe und mich frage, ob ich sie nun geschluckt habe oder ob ich das nur geplant hatte. In den allermeisten Fällen fällt es mir aber wieder ein, und im Zweifelsfall schlucke ich sie nochmals. Lieber mal die doppelte Dosis als gar keine.

Ich bin 31, seit ich 19 bin, schlucke ich Psychopharmaka. Der erwähnte Absetzungsversuch mit 24 blieb, wie erwähnt, der einzige. Meiner Meinung nach bin ich genug alt, genug erfahren und genügend zurechnungsfähig, dass mein Umfeld mir zutrauen kann, dass ich diese persönliche Angelegenheit alleine meistern kann. Ich mag nicht bevormundet werden, auch wenn ich weiss, dass dies aus Angst um mich und meine Gesundheit geschieht, und auch, wenn offensichtlich ist, dass meine Familie und meine Freunde mit mir schon einiges durchmachen mussten – und mehr als einmal um mein Leben bangten. Dennoch, ich bin kein Kind mehr, und ich kenne mich mit meinen Medikamenten ganz sicher besser aus als sämtliche Familienmitglieder zusammen.