Stimmen.

Hier erzähle ich von Halluzinationen und anderen Alpträumen, bitte nur mit stabilen Nerven lesen.
Ich kann mich noch lebhaft erinnern, wie es war, als ich meinem Freund vor etwas mehr als 5 Jahren erzählte, dass ich Stimmen höre. Zum historischen Kontext: Ich wohnte damals seit etwa einem Monat wieder zu Hause (davor war ich stationär in der Psychiatrie) und besuchte ambulant eine Tagesklinik. Meiner Psychologin in der Tagesklinik hatte ich ebenfalls davon erzählt, auch das war ein Riesenschritt für mich (ganz ehrlich, ich kenne niemanden, der stolz darauf ist, zu halluzinieren), aber das meinem Freund gegenüber offenzulegen war nicht nur ein Riesenschritt, sondern ein Quantensprung. Es ging nicht nur darum, dass ich mich dafür in Grund und Boden schämte, es ging auch darum, dass ich Angst hatte, dass er mich wieder in die Geschlossene einweisen lässt, wenn er das hört. Dass er das Recht hat, das zu tun, hatte ich beim Austritt unterschrieben (ja, rechtlich gesehen war diese Unterschrift nicht viel wert, es ging um die symbolische Bedeutung dieses Dokuments, damit er mir „etwas vor die Nase halten kann“, O-Ton Psychiaterin, falls ich im Wahn nicht einsichtig sein sollte).
Wir sassen im Auto, und ich setzte an. „Es ist so…“, „ich meine…“, „ich möchte dir sagen…“ – ich rang ewig um Worte und brach unzählige Male wieder ab, bis ich es aussprechen konnte, „ich höre in meinem Kopf Stimmen.“ „Oh.“ Er sagte nicht viel dazu. „Ich weiss, dass sie nicht real sind“, brach es aus mir hervor. „Was sind das für Stimmen?“ fragte er. „Es ist meistens eine Männerstimme“, ich konnte kaum noch reden, „aber nicht immer, es ist auch eine Frauenstimme und manchmal ein Kind. Es ist eine Familie.“ In meinem Inneren tobte ein heftiger Kampf, als ich das sagte, und es war fast unerträglich, auszuhalten, dass ich all das laut gesagt hatte. Mein Freund erzählte irgend etwas von „Symbolen“ und „Botschaften“ und dass es vielleicht gar nicht so pathologisch sein müsse, Sachen zu sehen oder hören, die andere Menschen nicht wahrnehmen.
Ich weiss nicht mehr, ob ich meinem Freund im Anschluss wirklich noch erklären konnte, wer die drei – plus manchmal noch ihre Freunde und ihre weitere Familie, deren Stimmen manchmal ebenfalls erklangen – waren, in welcher Beziehung ich zu ihnen stand. Es war nicht nur die Scham, es war nicht nur die Angst, wieder in dieser furchtbare Klinik gesteckt zu werden, nein, mittlerweile war es auch der Verrat, der mich abwürgte. Ich verriet meine innere Familie. Ich verriet all das, was sich in meinem Kopf abspielte, seit ich in Argentinien im Spital war. Dort hatte es angefangen. Ich hatte irgendwo in meinen Augenwinkeln einen Mann gesehen, den ich gekannt hatte, als wir beide noch Kinder waren. Er sah jetzt erwachsen aus, aber ich erkannte ihn wieder. Seit da hörte ich in meinem Kopf seine Stimme. Und später auch die seiner Frau und noch später auch die seines Kindes.
Es war Verrat, jemandem davon zu erzählen. Es waren höchst intime Dinge, die ich da seither gehört hatte. Es ging um Gewalt, es ging um Missbrauch, es ging um Drogen, es ging um Selbstmordversuche, es ging um selbstverletzendes Verhalten. Ich hatte oft Schmerzen, weil ich fühlte, wie jemand sich verletzte oder geschlagen wurde oder sich Drogen spritzte. Ich fühlte einen schlimmen, stechenden Schmerz, wenn der Mann, die Hauptperson dieser furchtbaren Geschichte in meinem Kopf, näher kam. Näher zu mir. Er benutze schwarze Magie, hörte ich ihn sagen. Ich verspürte die Schmerzen in dem Körperteil, die am nächsten zu ihm war. So konnte ich mir ausmalen, wo er gerade ungefähr war.
Warum ich diese Erinnerungen ausgrabe? Ich habe mittlerweile festgestellt, dass die meisten Menschen, die akustische Halluzinationen haben, irgendwie anders halluzinieren als ich. Offenbar befehlen Stimmen gerne Dinge, böse Dinge. Das war bei mir nie der Fall. Der Mann und seine kaputte Familie wandten sich nie direkt an mich. Er sprach nicht direkt mit mir. Und er gab mir nie irgendwelche Aufträge oder Befehle. Nein, was ich hörte (ich schreibe all dies bewusst so, als wäre es real), waren seine Gedanken, manchmal aber auch seine Gespräche mit seiner Frau oder dem Kind oder sonst wem. Und ich hörte all dies nicht mit meinen Ohren. Ich hörte es nur in meinem Kopf. Es fühlte sich an wie extrem laute Gedanken in einer fremden Stimme. So laut, dass ich manchmal kaum in der Lage war, ein reales Gespräch zu führen. Ich konnte mich kaum auf ein Gegenüber konzentrieren in diesem Zustand, die Stimmen im Kopf waren so laut, dass sie mein Gehirn flachlegten. 
(Es waren, um ehrlich zu sein, nicht immer nur furchtbare Dinge, die sich in meinem Kopf in meiner inneren Familie abspielten. Es war auch Alltag. Wocheneinkauf, das Auto, albernes Zeugs, wenn sie betrunken waren, manchmal erzählten sie sogar Witze.)
Es ist bezeichnend, um zurück zu meinem „Outing“ vor meinem Freund zu kommen, dass die Stimmen sich ein paar Tage nach meinem Geständnis verflüchtigten und schliesslich verschwanden. Ich hatte ihnen das Futter genommen, ich hatte ruiniert, was ihre Existenz erst möglich gemacht hatte: Das Geheimnis, das Abspalten. All die Fantasien brachen in sich zusammen wie ein Kartenhaus, als ich sie mit der Realität konfrontierte. Eine Zeit lang hörte ich dann noch meine eigene Stimme im Kopf, wie ein Echo meiner eigenen Gedanken. Und dann hörte auch das auf.
Es ist lange her, und seither habe ich im Wachzustand nicht mehr halluziniert. Aber was mir nach wie vor passiert, und in letzter Zeit sogar gehäuft, sind Halluzinationen im Halbschlaf. Bzw, mittlerweile sogar im fast wachen Zustand, einfach nachts. 
Ich höre dann oft Musik. Es ist alte Musik, und sie klingt scheppernd und verzerrt, wie aus einem alten Radio. Ich hatte das schon in der letzten Wohnung, dachte jedoch ernsthaft, es sei die Frau, die unter uns wohnt, die wohl oft nachts ein Radio laufen liesse. Jetzt sind wir umgezogen, und ich höre die Musik immer noch. Sie macht mir Angst. Kurz darauf fangen meist die Schmerzen an. Jemand kommt näher, und ich habe Schmerzen. Ich weiss dabei genau, dass ich im Bett liege, ich kann manchmal sogar die Augen aufmachen und die Umrisse des Zimmers erahnen. Gleich darauf fallen sie mir wieder zu, weil ich so müde bin, dabei weiss ich genau: Sobald ich mich wirklich aufwecken kann, ist der Spuk vorbei, aber ich kann mich nicht richtig wecken, weil ich so müde bin. Ich höre manchmal auch eine Stimme, eine kalte, grausame Stimme. Manchmal kann ich mich bewegen, dann spüre ich, dass mein Freund neben mir liegt, und neulich habe ich ihn offenbar laut gefragt, ob er die Musik auch hört. „Nein“, sagte er, „ich höre keine Musik“. Das geschah offenbar wirklich, er sprach mich darauf an. Ich hatte ernsthaft gedacht, dass das alles nur im Traum stattfand. 
Es fühlt sich komisch an, das Gefühl, das ich habe, wenn ich in diesen merkwürdigen Träumen feststecke, erinnert mich irgendwie an Elektrizität. Als ob ich unter Strom stehen würde, wörtlich. Als wäre ich selber eine Art Radio, das elektrische Schwingungen empfängt, die sonst niemand spürt. Es tut weh, es ist ein schmerzhaftes Gefühl. Mein Puls überschlägt sich fast, mein ganzer Körper ist auf eine Art angespannt, die ich kaum beschreiben kann. Als würde ich zittern, als würde ich selber irgendwie schwingen.
Warum ich das Alles hier erzähle? Ich will niemandem Angst machen, ich will keine Vorlage für einen Gruselfilm liefern. Ich schreibe das hier, weil ich niemandem davon erzählen kann. Nicht im wörtlichen Sinn, nicht so wie damals mit den Stimmen, natürlich erzähle ich meinem Freund davon, ich glaube, ich habe sogar meiner Psychologin schon davon erzählt. Aber halt nicht in dieser Ausführlichkeit. Niemand will Details zu Alpträumen hören, ausserdem schäme ich mich auch für diese Absonderlichkeit meines Gehirns gehörig. Das ist nichts, was ich einfach so einer Kollegin erzählen würde. Aber, und damit schliesst sich der Kreis, ich erhoffe mir, dass ich auch diesem Gruselkabinett in meinem Kopf das Futter verwehre, wenn ich einfach davon erzähle. Wenn ich die Scham überwinde und den Verrat, den ich als „Medium“ irgendwelcher komischen, scheppernden Musik begehe, wenn ich darüber berichte, meinem Unterbewusstsein den Spass verderbe, mich mit solchem Bullshit zu quälen.
Ende.

6 Gedanken zu “Stimmen.

  1. Es ist immer schwierig sich zu outen und sehr private Erfahrungen von sich zu offenbaren, aber schämen musst Du Dich aus meiner Sicht nicht. Ich danke Dir sehr für diesen Beitrag und Deine Offenheit.

  2. Ich höre seit Jahren Stimmen, habe aber 2 Jahre gebraucht, bis ich meinem Psychiater davon erzählen konnte. Es tut gut darüber zu sprechen, es hilft, das eigene Erleben zu teilen. Ich konnte in den letzten Jahren dank meiner Therapeutin lernen, mit den Stimmen umzugehen. Ich habe lange dafür gebraucht, aber inzwischen kann ich damit leben. Ich schliesse mich meiner Vorrednerin an: Es gibt keinen Grund, sich zu schämen. Ich wünsche dir, dass das Aufschreiben die hilft, wenn nicht, dann kannst du hoffentlich einen Umgang damit finden.
    Ganz liebe Grüsse
    Ut

    • Vielen Dank, dass du deine Erfahrungen mit mir teilst! Ich bin froh, dass ich die Stimmen los bin – bis zur nächsten Psychose – und habe grossen Respekt vor Menschen, die ständig mit ihnen leben. Das stelle ich mir wirklich anstrengend vor. Ich bewundere dich sehr dafür und wünsche dir, dass auch dein Weg leichter wird. Alles Liebe, My

  3. Ich finde deine Art zu schreiben bewundernswert. Nicht merkwürdig oder befremdlich, nein, solange man schreibt, was man empfindet und den Leser dabei mitnimmt, schafft man eine Nähe, die verhindert, dass Ängste vor dem anderen aufkommen.
    Mich würde noch interessieren, was dein Psychiater zu den Halluzinationen/Stimmen in der Einschlaf-/Aufwachphase gesagt haben. Ich höre dann nämlich auch manchmal Geräusche und Wortfetzen und frage mich, ob das ein Zeichen meiner Erkrankung ist, oder jedem passieren kann.

    • Meine Psychologin sagte nicht viel dazu. Aber ich habe ihr auch nicht viel davon erzählt. Funfact ist, seit ich diesen Beitrag geschrieben habe, hatte ich das nicht mehr, diese komischen Halbschlafzustände und auch die merkwürdige Musik sind im Moment verschwunden.

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